Annemarie Schindler leitete über viele Jahre in Tirol Ihre Konzertreihe in der „Villa Schindler“. Heute ist ihr Konzertflügel einer der beiden Hauptdarsteller von piano duo. Mit ihr spreche ich über einen Kindheitstraum, seltene Sternstunden, den Fluch von CD-Aufnahmen und den Segen von Konzerten vor Publikum – und über Töne, die glücklich machen.
Frau Schindler, es ist wohl nicht übertrieben, wenn man sagt, dass die Musik ein ganz großer, wichtiger Teil Ihres Lebens ist. Erinnern Sie sich noch, wann Sie Ihre Liebe zur Musik entdeckten?
Ja, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Da war ich noch relativ klein, so um die zehn Jahre alt. Ich konnte oft schlecht einschlafen, und so habe ich dann in der Nacht gelesen oder Radio gehört. Und da erklang plötzlich diese wunderschöne Musik, die ich fasziniert bis zum Ende gehört habe – es war Beethovens „Pastorale“.
Spielen Sie selbst ein Instrument?
Furchtbar schlecht Klavier. Schon als Kind wollte ich Klavier lernen, aber die Professoren damals waren schrecklich – die haben mit einem langen Bleistift auf die Finger geschlagen. Ich habe immer wieder aufgehört. Und erst jetzt, im hohen Alter, habe ich die Methode gefunden, die mir guttut. Das ist eine unglaublich kreative Methode für Erwachsene und seither macht es mir auch Spaß.
Die Professoren damals waren schrecklich – die haben mit einem langen Bleistift auf die Finger geschlagen.
Hat diese Methode einen Namen?
Es ist die Klavierschule von Michel Sogny, der auch die ersten Jahre der Künstlerische Leiter der Villa Schindler war.
Wie kamen Sie zum Klavier?
Wir hatten ein Klavier zuhause. Mein Vater liebte Musik, und die einzige Erinnerung, die ich an meine Mutter habe, die sehr früh gestorben ist, war, dass sie mir auf dem Klavier vorgespielt hat.
Als ich vor vielen Jahren einmal erwähnte, dass ich so gerne Arthur Rubinstein persönlich kennengelernt hätte, erzählten Sie beiläufig, dass er direkt neben Ihnen einen Sitzplatz im Théâtre des Champs-Élysées hatte. Viele der großen Persönlichkeiten, die wir heute nur noch aus Erzählungen oder dem Internet kennen, trafen Sie persönlich. Yehudi Menuhin war sogar Ehrenpräsident des Freundeskreises der Villa Schindler. Welcher Ihrer weltberühmten Künstler hat Sie am meisten beeindruckt, vielleicht sogar dazu motiviert, Ihre Konzertreihe in der Villa Schindler zu veranstalten?
Yehudi Menuhin hat mich moralisch sehr unterstützt. Es war Mitte der 90er Jahre wahnsinnig wichtig, dass dieser wunderbare Geiger und Humanist mir seine Zusage gab. Er fand die Idee, junge Künstler zu unterstützen, sehr schön und war bis zu seinem Tod [Anm. † 12.3.1999] unser Ehrenpräsident. Aber es war kein Künstler, der mich motiviert hat. Es war wirklich ein Traum, den ich mir erfüllt habe, und diesen Traum hatte ich bereits als Kind. Ich wäre so wahnsinnig gerne eine Künstlerin geworden.
Annemarie Schindler und Lord Yehudi Menuhin an seinem 80. Geburtstag. London, April 1996
So gerne hätte ich gut Klavier gespielt oder gesungen, aber ich habe gleich gemerkt, dass aus mir diesbezüglich nie was wird. Und dann kam mir die Idee, dass man Künstlern helfen müsste. Die haben bestimmt ein schweres Leben und so wurde die Idee geboren, die dann erst Jahre später mit der Villa Schindler öffentlich wurde.
Über fast 25 Jahre haben Sie schließlich Ihre Konzerte in der Villa Schindler veranstaltet. Es gibt – zumindest heute – ein enormes Angebot an musikalischen Veranstaltungen. Was wollten Sie bei Ihrer Konzertreihe anders machen?
Meine Motivation war ja nicht, einfach nur zusätzliche Konzerte zu organisieren, sondern das Ziel war, den jungen Musikern zu helfen. Konzerte kann jeder organisieren. Mir ging es vielmehr darum, jungen Leuten die ersten Konzerte zu ermöglichen und sie einem Publikum vorzustellen.
Wie hat sich Ihr Zugang zur Musik im Laufe dieser Zeit verändert?
Es waren so unglaublich schöne Momente… Ich habe mir noch einen weiteren Traum erfüllt, nämlich, Künstler kennen zu lernen. Die Stunden und Abende und Tage, die ich mit den jungen Künstlerinnen und Künstlern verbracht habe, sind unvergesslich. Das hat mein Leben sehr zum Positiven verändert. Diese Künstler, die ich oft meine „Kinder“ nenne, sind unglaublich wertvolle Menschen für mich.
Sie haben viele KünstlerInnen aus der Nähe erlebt und kennen dadurch das klassische Musikleben zumindest teilweise von innen. Wenn Sie mit Ihrem Publikum sprechen, mit Ihren Bekannten, Freunden und Freundinnen – Was glauben Sie, ist der größte Irrtum, wenn man den Musikbetrieb nur aus dem Zuschauerraum kennt?
Ich glaube, es fehlt beim Publikum oft die Kenntnis, was ein Künstler überhaupt ist und was dahinter steckt. Die Zuschauer wissen gar nicht, wieviel Arbeit, wieviel Verzicht damit verbunden ist. Und das nur ganz, ganz wenige Karriere machen. Ganz wenige! Ich war so viel auf Wettbewerben, und so viele, auch erste Preisträger, haben nie eine Karriere gemacht.
Die Weltbesten zu Gast in der Villa Schindler: hier ein Konzert am legendären “Amateur-Wochenende”. v.l.n.r.: Shoko Horita, Michael Cheung, Thomas Yu
Hat sich der Konzertbetrieb in Ihren Augen verändert?
In meinen Augen, ja. Es wird wohl immer ein Konzertpublikum geben, das treu in die Konzerte geht und die Künstler begleitet. Aber leider, leider haben die Medien einen solchen Einfluss auf die Programme der Konzertveranstalter, auf die Künstler, die engagiert werden! So hat sich auch in meinen Augen die Qualität des Konzertlebens sehr verändert. Es gibt so viele gute Künstler, aber es werden nur die berühmtesten eingeladen. Und da ist noch etwas: Diese vielen CD-Aufnahmen! Jeder Künstler hat eine CD. Aber diese Aufnahmen nehmen auch das Spontane weg. Man fängt an zu vergleichen, ein Konzert mit einer CD, was ja auch nicht richtig ist. Das ist vor allem bei den Sängern ganz schlimm. Aber das Schöne ist doch, wenn man in einem Konzert sitzt, und einen neuen Künstler entdeckt. Es gibt immer noch wunderbare Künstler und es gibt noch wunderbare Momente, wo alles zusammenpasst. Wo man als Zuhörer offen ist und wo der Künstler das irgendwie spürt. Das sind unglaubliche Momente! Und darum ist es so wichtig, dass die Konzerte weiter direkt vor dem Publikum stattfinden!
Sie haben u.a. große Klavierwettbewerbe bereist, um junge KünstlerInnen für Ihre Konzerte zu engagieren. Was waren für Sie die Kriterien, einen Künstler bzw. eine Künstlerin in die Villa Schindler einzuladen, oder – vielleicht trotz eines Wettbewerbserfolges – eben nicht?
Ja, das ist ganz einfach: da gibt’s etwas, das ist das Bauchgefühl. Ich glaube nicht, dass ich etwas von Musik verstehe. Ich liebe Musik und ich höre gerne zu. Ich bin keine Kritikerin und keine Musikwissenschaftlerin.
Aber was mir passiert, das passiert mir dann immer wieder, oft auch in großen Abständen: Wenn ich in einem Wettbewerb sitze, und langsam müde werde, weil ich stundenlang dieselben Sonaten höre und dieselben Klavierkonzerte – und ganz plötzlich kommt jemand, und ich bekomme Gänsehaut, dann weiß ich: der ist es! Und auch, wenn er oder sie nicht den ersten Preis gewinnt, ist das völlig egal! Und auch das Menschliche ist mir wichtig. Ich habe erste Preisträger gehört, die waren gut, aber ihre Persönlichkeit hätte nicht in die Intimität einer Villa Schindler gepasst.
Ich glaube nicht, dass ich etwas von Musik verstehe. Ich liebe Musik und ich höre gerne zu.
Was ist für Sie ein schönes Konzert?
Ein schönes Konzert ist, wenn ich alles vergesse. Wenn ich einfach glücklich bin. Das ist ein unglaubliches Gefühl. Und dann gibt’s noch die seltenen Sternstunden, wo ich mir sage: „Und wenn ich nur für diesen Moment gelebt habe, hat es sich gelohnt!“
Haben sich die KüntlerInnen verändert?
Also, meine Künstler sicher nicht! Mit den meisten jungen Musikern, die ich eingeladen habe, bin ich heute noch immer verbunden. Der Verzicht auf alles Normale im Leben und die Einstellung, Musiker werden zu wollen, macht sie zu besonderen Menschen. Das ist noch meine Welt!
Aber wahrscheinlich hat sich der Geschmack der Zuhörer verändert. Es gibt heute mehr Zirkus im Konzert. Es ist spektakulärer geworden, aber es ist deswegen nicht besser geworden. Es gibt keinen Rubinstein mehr. Aber zum Glück gibt es noch Künstler wie, unter anderen, Beatrice Rana.
Es gibt heute mehr Zirkus im Konzert. Es ist spektakulärer geworden, aber es ist deswegen nicht besser geworden.
“Der Verzicht auf alles Normale im Leben und die Einstellung, Musiker werden zu wollen, macht sie zu besonderen Menschen.” Jean-Paul Gasparian, Annemarie Schindler, Pietro de Maria und Ehefrau Rosella
Viele Ihrer KünstlerInnen haben ihre Österreich-Premiere in der Villa Schindler gespielt. Heute konzertieren die meisten von ihnen auf den ganz großen Bühnen dieser Welt. Wie fühlt sich das für Sie an, wenn Sie Ihre Schützlinge auf den Plakaten und den Bühnen der großen Konzerthäuser wiedersehen?
[lacht] Da bin ich natürlich stolz! Und ich denke mir dann, ich habe ein tolles Bauchgefühl! Die meisten meiner Künstler spielen wirklich überall, und das freut mich riesig.
Viele Jahre haben Sie junge MusikerInnen unterstützt. Heute ist Ihr Konzertflügel ein ganz wichtiger Teil des piano duo Projektes, man kann sagen, dass Ihre Hilfe praktisch „ambulant“ geworden ist…
[lacht]… das ist ein sehr schönes Wort! Und genau wie bei unserem piano duo Projekt, wollte ich bei meinen Konzerten erreichen, dass sich Publikum und Künstler kennen lernen. Das war der Grund für das Buffet und die Cocktails im Anschluss an die Konzerte. Es ging nicht um Cocktails! Es war mir wichtig, die Konzerte mit guten Gesprächen ausklingen zu lassen.
… Wie sind Sie eigentlich zu diesem einzigartigen Instrument gekommen?
Bevor wir die Villa Schindler eröffnen konnten, haben wir einen gebrauchten Steinway-Flügel gesucht. Wir wurden dann von dem damaligen Steinway-Händler in Wien darauf aufmerksam gemacht, dass er einen Flügel aus Prag zum Verkauf bekommen würde. Und es war Liebe auf den ersten Blick. Er musste noch restauriert werden und war dafür in Wien und in Hamburg.
Was ist für Sie ein schöner Flügel?
Ein schöner Flügel ist ein Instrument mit einem schönen Klang, mit einer Seele. Für mich ist es ein Flügel mit einem warmen Ton. Er ist beseelt – ich glaube, ein Flügel ist irgendwie ein Lebewesen. Und je nachdem, wie er sich fühlt, so schön kann man ihn dann auch spielen. Und die Töne erreichen, die einen glücklich machen.
Ich glaube, ein Flügel ist irgendwie ein Lebewesen.
Ein Instrument mit einer unglaublichen Geschichte – und mit Seele: der “353018” fand über Hamburg, Prag und Wien seinen Weg in die “Villa Schindler” in Telfs
Einen ganz ähnlichen Weg, wie die vielen jungen KünstlerInnen, die regelmäßig in der Villa Schindler auftraten, geht gerade Ihr Steinway: Wie fühlt es sich für Sie an, wenn Sie heute Ihren Flügel bei Konzerten oder bei Aufnahmen erleben und im Internet von ihm hören oder lesen – weit weg von Tirol, aber zukünftig vielleicht sogar von denselben KünstlerInnen gespielt, wie einst in der Villa Schindler?
Da kann ich nur wieder dasselbe sagen, wie stolz ich bin und glücklich. Und so geht das Leben weiter mit dem „ambulanten“ Flügel! Ein Traum!
Ambulante Hilfe”: Annemarie Schindler mit Andreas Faranski und Fabian Müller an ihrem “353018” im Emmerich-Smola Saal, SWR-Studio Kaiserslautern, 2018
Heute dürfen Sie selbst Zuschauerin sein. Können Sie dadurch Ihre Konzerte mehr genießen, weil Sie keine Verantwortung mehr für das Gelingen tragen?
Nein! Es war vielleicht nur das erste Jahr, wo ich ein bisschen gezittert habe, ob alles gut über die Bühne geht. Aber dann gar nicht mehr. Ich habe meine Konzerte unwahrscheinlich genießen können. Aber das ist lustig: Ich habe mir immer gewünscht, wenn ich einmal keine Konzerte mehr organisiere, dass ich die Karriere meiner Künstler mitverfolgen kann und ihnen nachfahre. Und wenn das noch dazu mit meinem Flügel ist!
Zum Konzert von Till Fellner sind Sie eigens aus Paris nach Wien gereist…
…Ja, natürlich! Und meine Freunde aus Tirol kamen ja auch!…
Was war das für ein Gefühl, die zwei letzten Schubert-Sonaten in einem so bedeutenden Konzertsaal zu erleben, gespielt von einem großartigen Pianisten, vor einem ergriffenen Publikum – auf Ihrem Flügel?
Schubert ist einer meiner Lieblingskomponisten. Und dann meinen Flügel in einem großen Konzertsaal zu hören! In Wien! Und mit Till Fellner! Das war ein riesiges Erlebnis! Das werden wir alle nicht vergessen!
…und wie eine wunderbare Klammer, sitzt Alfred Brendel in der Loge…
Stimmt! Das hatte ich ganz vergessen! Ich habe ihn gesehen. Er war auch einer meiner Lieblingspianisten. Gerade mit Schubert! Schubert-Abende mit Brendel, das waren Sternstunden!
“Das werden wir alle nicht vergessen!” Till Fellner spielte den “353018” im Wiener Konzerthaus, 28.10.2019
Wir haben vorhin darüber gesprochen, ob sich die PianistInnen verändert haben. Haben sich aus Ihrer Beobachtung die Flügel verändert?
Oh ja! Und wie! Ich war auf Wettbewerben, das fand ich schlimm. Aber vielleicht liegt es nicht daran, dass die Flügel nicht mehr so schön sind, sondern daran, dass sie nicht mehr so gefragt sind – die Töne, die ich so sehr liebe. Ich habe nichts gegen neue Flügel. Sie sind ja auch angepasst an die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Aber sie sollten strahlen! Es darf nicht hart sein! Es geht nicht um laut oder leise, es geht um den Klang; hart ist scheußlich, hart tut weh!
Es geht nicht um laut oder leise, es geht um den Klang; hart ist scheußlich, hart tut weh!
…Dann sind wir mit unserem piano duo Projekt ja sehr gut aufgestellt: Wir haben zwei Flügel aus zwei Jahrhunderten, und keines der Instrumente hat einen harten Ton! Was erhoffen Sie sich von diesem Projekt?
Ach! Für mich persönlich: Einen neuen Lebensabschnitt! [lacht] Ich freue mich schon darauf, wieder unterwegs zu sein und die Künstler bei ihren Konzerten und ihren Aufnahmen zu begleiten. Die Künstler werden überglücklich sein – ebenso wie die Freunde, die manchmal aus Tirol kommen werden.
Sie werden unser piano duo also begleiten?
Ja, wenn ich irgendwie kann, sehr gerne. Ich kann nicht zu viel reisen, aber ich werde immer wieder einmal den Künstlern nachfahren – und den „ambulanten“ Flügeln auch.
Annemarie Schindler, herzlichen Dank für das Gespräch!