Fabian Müller, Professor an der Hochschule für Musik Köln, hat bereits mehrere CDs auf unserem piano duo-Flügel „353018“ aufgenommen. Mit ihm tauche ich ein in eine Welt aus alten Farben und Klängen und erfahre über die Gemeinsamkeiten zwischen einem Konzertflügel und einem Tennisschläger. Und ich staune über sein Gefühl, dass es niemals ganz so klingt, wie er es möchte.
Fabian Müller, wenn man piano-duo.blog öffnet und die Anfänge unseres Projektes erforscht, könnte man denken, es handele sich dabei um Ihre persönliche Website. Wussten Sie, dass Sie unbeabsichtigt ein ganz wichtiger Initiator für unser piano duo Projekt waren?
Nein, das war mir nicht bewusst. Aber auf jedem Fall habe ich den Eindruck, bei einer Entstehung beteiligt gewesen zu sein…
Heute sind Sie mit bereits mehreren veröffentlichen CDs ein bekennender piano duo Künstler unseres piano duo Flügels von 1956. Was macht für Sie speziell diesen Flügel so besonders?
Auf eine gewisse Art und Weise verkörpert dieser Flügel das, was ich auf anderen Flügeln immer gesucht habe. Es ist diese Welt aus alten Klängen und Farben, die man heute so gut wie nicht mehr finden kann. Und anstatt sich diese Welt von Farben und Klängen erkämpfen zu müssen, wird man von diesem Flügel eingeladen, diesen Klangraum zu betreten.
Fabian Müller spielt den "353018", hier bei seiner Schubert Aufnahme
Es ist diese Welt aus alten Klängen und Farben, die man heute so gut wie nicht mehr finden kann.
Ich persönlich werde oft gefragt, ob der ganze Aufwand, einen Flügel für eine Aufnahme oder ein Konzert vorzubereiten oder gar eigens anzuliefern, nicht etwas übertrieben sei. Wie würden Sie diese Frage beantworten?
Nein, gar nicht! Es hört sich im ersten Moment nach viel Aufwand an. Aber verglichen mit der Arbeit, die ein Pianist sein ganzes Leben darin investiert, diese Aufnahme gut zu machen oder dieses Konzert gut zu spielen, ist die Vorbereitung und der Transport des Instruments ja eigentlich nur ein „Tropfen“ an zusätzlichem Aufwand. Und auch wenn man betrachtet, was für ein unglaublicher Frust entsteht, wenn man so hart arbeitet für eine tolle Aufnahme und dann durch ein schlechtes Instrument limitiert wird! Limitiert nicht durch das eigene Spiel, durch den Moment oder die Atmosphäre, sondern ausschließlich durch ein schlechtes Instrument – dann gibt es einfach nichts Schöneres, als wenn man einen Flügel hat, der einem keine Grenzen setzt. Das ist meine Antwort als Künstler. Als außenstehender Zuhörer muss ich antworten, dass es Luxus ist. Ein positiver Luxus, der mit nicht gerade geringen Kosten verbunden ist. Dennoch stehen diese Kosten in keinem Verhältnis zu dem unglaublichen Mehrwert, den es bringt, wenn man auf dem Flügel spielt, den man sich persönlich für die Aufnahme ausgesucht hat.
Geschenkt, dass Sie lieber auf einem besonders guten Instrument spielen möchten. Aber glauben Sie, dass das Publikum einen schönen Flügel überhaupt wahrnimmt?
Auf jeden Fall! Selbstverständlich nimmt das Publikum die Qualität war! Das ist vielleicht vergleichbar mit einem Tennisspieler, der einen nicht so guten Schläger hat: Die Zuschauer realisieren nicht die Qualität des Schlägers – aber der Ball geht daneben! Und das merkt dann auch das Publikum.
Ein Pianist hat nicht das Privileg eines Geigers oder Sängers, sein Instrument überall hin mitnehmen zu können. Wie lange dauert es für Sie, sich auf ein völlig fremdes, vielleicht sogar spielunwilliges Instrument einstellen zu können?
Es wäre schon ein absoluter Traum, wenn ich mir vorstelle, ich könnte mein eigenes Instrument überall hin mitnehmen…Man muss versuchen, das Gute im Schlechten zu sehen und sich vorstellen, dass es auch ganz schön sein kann, sich überraschen zu lassen von der Unterschiedlichkeit der Flügel.
Aber das ist häufig nur ein schwacher Trost. Denn in den meisten Fällen fallen einem zuerst die Dinge auf, die einen vor Probleme stellen. Wenn man nicht die Möglichkeit hat, einen schönen Flügel zu spielen, dann muss man es so machen wie mit Menschen: Man muss sich auf sein Gegenüber einlassen und das Beste daraus machen, ohne während dieser Interaktion ständig an irgendetwas herum zu meckern.
Man muss sich auf sein Gegenüber einlassen und das Beste daraus machen, ohne während dieser Interaktion ständig an irgendetwas herum zu meckern.
Wie können Sie sich überhaupt an einen Flügel gewöhnen, wenn er nicht gut ist und nicht das tut, was Sie von ihm erwarten?
Als erfahrener Pianist hat man es gelernt, sich darüber ein Stück weit „hinweg zu träumen“. Es kommt aber auch darauf an, um welche Probleme es sich handelt. Wenn es ein kleines Mechanikproblem ist, ein kleiner Ton fehlt, dann ist das nicht schlimm. Wenn es aber irgendwo im Diskant Töne gibt, die einfach „tot“ klingen, und es einfach nicht möglich ist, einen schönen Gesang darauf zu spielen, dann kann man eigentlich nur den Klang, den man produziert, als Ausgangspunkt für seine Fantasie nehmen, was man sich wünschte, wie es klingen sollte...
...mir sind in Ihrer Antwort zwei Worte aufgefallen: „hinwegträumen“ und „Fantasie“. Ist die Vorstellungskraft eines Künstlers wichtiger als seine technische Fertigkeit?
Ja, absolut! Hundertprozentig! Deshalb können auch großartige Pianisten auf schlechten Flügeln erstaunlich gut spielen. Die Sehnsucht nach dem, was herauskommen soll, ist vielleicht der wichtigste Antrieb für einen Pianisten. Es ist nicht realistisch, dass immer alles so funktioniert, wie man es sich vorstellt. Aber auf einem guten Flügel wird es viel häufiger den Moment geben, wo einen der Flügel über seine eigene Vision hinaus positiv überrascht.
Die Sehnsucht nach dem, was herauskommen soll, ist vielleicht der wichtigste Antrieb für einen Pianisten.
Das heißt, Sie müssen Ihre Finger und Ihren Kopf praktisch so programmieren, dass Sie sich die Ungleichmäßigkeiten des Anschlags und des Klanges merken und jede Taste unterschiedlich spielen, damit es für den Zuhörer möglichst gleichmäßig, frei und natürlich klingt?
Ja! Aber das ist kein bewusster Prozess, sondern es funktioniert ausschließlich über den Wunsch des Ohres – und die Mechanik und die Finger und der Körper folgen. Es ist also kein Auswendiglernen…
…sondern die innere Vision, die alles hinter sich herzieht?
Ja, genau!
Was denken Sie, wenn Sie hören, dass ein Flügel mit fünf Jahren bereits zu alt ist für den Konzertbetrieb?
Ja, das habe ich hier und da schon mal gehört…
…und was sagen Sie dann?
Dann antworte ich: „Das ist eine Meinung, der ich mich in keinster Weise anschließe!“
…und dieselben Menschen behaupten, ein Flügel sei außerdem in den ersten fünf Jahren noch nicht richtig eingespielt…
[lacht] Ja, ja. Kein Kommentar!
Sie konnten auch bereits unseren neuen „615313“ etwas kennen lernen. Was ist für Sie der Unterschied zwischen alten und neuen Flügeln im Allgemeinen und unseren beiden piano duo Instrumenten im Besonderen?
Es ist schwer zu pauschalisieren, weil jeder Flügel sehr individuell ist. Aber trotzdem würde ich sagen, dass die älteren Flügel, wenn sie gut sind, häufiger diesen warmen, weichen Schimmer um den Klang haben. Und auch die Klangkombination kommt nicht dadurch zustande, dass sich einzelne Töne addieren, sondern dass sich die Klänge auf einer sehr tiefen Ebene verbinden.
piano duo-Flügelauswahl im Lager von Andreas Faranski: Selfi mit dem "615313"
Bei neuen Flügeln, und so war es auch bei dem neuen piano duo Instrument, ist es sehr viel leichter, den Klang zu konstruieren, ihn mit einer sehr gesunden Explosivität aufzubauen.
Bei dem alten Flügel habe ich mehr das Gefühl, dass ich den Klang entstehen lasse, bei dem neuen Flügel empfinde ich es als angenehmer, wenn ich den Ton selber konstruiere und ihn vorgebe. Der neue Flügel hat weniger Ambivalenz, und dafür aber eine sehr schöne „Stütze“, wie man bei Sängern sagen würde.
Bei dem alten Flügel lassen Sie den Klang also von selbst entstehen, durch seine Resonanz, durch die Verbindung der Töne untereinander, während Sie bei dem neuen Flügel diese Klänge selbst vorgeben und konstruieren?
Ja, genau.
Verträgt sich ein alter Klang mit neuer Musik?. Würden Sie z.B. Ligeti auf dem älteren Flügel spielen?
Es gibt einige Stücke von Ligeti, die auch auf dem alten Flügel toll funktionieren könnten, weil Ligeti jemand war, der sehr viel über Schumann und Brahms gesprochen hat und an sich eine große Poesie hat. Eine Poesie, die mich manchmal auch an die Poetik der frühen Jahre des Jazz erinnert – mit diesem schönen, schimmernden, freien, nicht kitschigen, unbeschwerten Klang. Trotzdem sind die Extrema, die Ligeti fordert und das Ausloten des Maximalen und darüber hinaus, so rabiat in vielen Stücken, dass ich immer zu dem neueren Flügel tendieren würde.
Sie scheinen sehr klangsicher. Kann man so etwas lernen?
Ich fühle mich eigentlich gar nicht klangsicher. Ich habe eher das Gefühl, dass es niemals ganz so klingt, wie ich es möchte. Deshalb bin ich eigentlich immer auf der Suche und genieße diese kleinen Momente, in denen es funktioniert.
Sie denken jetzt an die Ausführung. Ich meinte aber Ihre Innere Vorstellung, Ihren klanglich-musikalischen Kompass. Der kommt mir bei Ihnen sehr ausgeprägt vor…
Das ist ein ganz spannendes Thema! Ich spiele bereits sehr lange Klavier und hatte viele tolle Lehrer…
… Natürlich! Sie hatten mit Pierre-Laurent Aimard den Klangmagier überhaupt als Ihren Professor…
Ja, aber irgendwann habe ich auch gelernt, welchen Klang ich eigentlich möchte. Ich finde es ganz spannend, dass das ein unabhängiger Wunsch von mir ist, mein musikalisches Ideal. Und ich habe auch gelernt, dass das eigentlich auch ein Teil meiner Persönlichkeit ist, den ich nicht komplett in alle Richtungen manipulieren kann.
Natürlich muss ein Klang extrem variantenreich sein, je nach Stück und Komponist. Aber trotzdem glaube ich, dass jeder Pianist, genauso wie ich, eine Klang-Persönlichkeit hat und gar nicht so richtig etwas dagegen tun kann. Ich kann mich selbst nicht verleugnen in meinem Klang.
Ich kann mich selbst nicht verleugnen in meinem Klang.
…Aber allgemein gesprochen: Welchen Stellenwert hat Klang im Studium?
Im Studium… Ich denke, das hängt mehr vom Professor ab als von dem Bestandteil des Studiums. Man kann nicht sagen: „Wir setzen jetzt den Klang auf den Lehrplan“. Es liegt mehr in den Händen von einzelnen Lehrern, die Schüler klanglich zu beeinflussen. Und wenn man Glück hat, trifft man in seinem Studium Professoren mit fantastischen Ohren. Es ist ein Glück, wenn man Menschen trifft, die wirklich toll zuhören. Wobei ich aber auch nicht finde, dass man die Qualität von einem Flügel auf den Klang reduzieren kann. Aber natürlich gibt es eine Kategorie „Klang“, an der man viel arbeiten muss.
Und was meinen Sie: wie wichtig ist der Klang für den Erfolg eines Konzertes oder einer Aufnahme?
Das ist auch eine spannende Frage! … [überlegt lange] …
…ich glaube, ein Sänger würde jetzt nicht überlegen, oder?
Vielleicht nicht…Der Klang kann ganz leicht alles kaputt machen, denn er ist das wesentliche Element der Musik. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Musik am Ende nicht der Klang ist, sondern etwas anderes. Aber man braucht den besten Klang, um in der Musik etwas transportieren zu können. Das ist wie mit einem ganz tollen Essen. Das braucht den allerbesten und raffiniertesten Geschmack, aber Ende ist die Erfahrung des Essens mehr, als nur die Qualität des Geschmacks. Das ist meine persönliche Meinung. Aber es ist ganz klar: Ein Konzert mit schlechtem Klang ist wie ein Essen, in das die falsche Menge Salz und Pfeffer hineingekommen ist – es wird schlichtweg ungenießbar!
Was die meisten Menschen vielleicht gar nicht wissen: Klaviermusik wird nur ganz selten in Studios aufgenommen, sondern meist in sündhaft teuren, leeren Konzertsälen, oft zu nächtlichen Zeiten – wozu dieser Aufwand?
Ich habe immer versucht, mir Orte auszusuchen, wo ich 24 Stunden lang Zugang zum Flügel habe. Es ist für mich wahnsinnig beglückend, wenn ich mich nach einem erfolgreichen Aufnahmetag abends noch einmal hinsetzen und spielen kann. Wenn ich in der Sekunde das Gefühl habe, dass die Inspiration dafür gerade perfekt ist – besser vielleicht, als an dem ganzen Tag, an ich eigentlich bereits alles aufgenommen habe.
Fabian Müllers Aufnahmesäle: Emmerich-Smola Saal, Kaiserslautern ("Brahms")...
...und Beethovenhaus Bonn ("Passionato")
Das ermöglicht eine tolle Flexibilität, um den richtigen Moment zu finden. Und da ist es wie mit einem tollen Flügel: wenn man die Möglichkeit hat, ist es mehr als eine Hilfe. Es ist eine Stütze, die essentiellen Einfluss auf die Qualität einer Aufnahme haben kann. Es ist gleichermaßen Luxus, wie auch ein wichtiger Bestandteil von Aufnahmen, mit denen ich am Ende auch zufrieden bin.
…und warum nehmen sie nicht im Studio auf?
Es ist halt anders als bei Popmusik. Bei klassischer Musik soll nicht künstlich ein Gefühl von Raum erzeugt werden, sondern man soll das Gefühl haben, man sitzt in einem Raum, der die Musik atmet und der mit seiner Akustik etwas zum Klang beiträgt. Vielleicht kann man das mit dem Fußball vergleichen. Man spricht ja oft vom 12. Mann, den Fans im Stadion, die den Ball nach vorne treiben. So ähnlich verhält es sich auch mit der Saalakustik: Der Saal nimmt den Klang auf, verändert ihn und gibt ihn zurück. Und er macht auch etwas mit der Atmosphäre…
Wie bereiten Sie sich auf eine Aufnahme vor? Haben Sie zum Beispiel die Stücke bereits vor langer Zeit einmal gespielt und lassen sie vorher eine Zeit lang „ruhen“ oder klingt Musik, die „frisch“ einstudiert ist, einfach am besten?
Nein, das sind alles Stücke, die ich seit sehr, sehr langer Zeit spiele. Und auch jetzt arbeite ich bereits an den Werken, die ich in den nächsten Jahren aufnehmen möchte. Aber wenn es dann soweit ist, hat man doch wieder das Gefühl, das es zu schnell geht. Man muss dann eben den Mut haben und es einfach machen. Es sind also immer lange Vorbereitungsprozesse, die einer Aufnahme vorausgehen. Es sind Teilschritte, in denen man sich so ein Stück zu eigen macht. Das bedeutet, dass es am Ende keine Hindernisse mehr gibt, die mich von der großen Wirkung, von dem großen Ideal abhalten. Denn erst, wenn man das Gefühl hat, man kann ohne Krücken durch das Stück hindurchwandern, ist ein Werk bereit, aufgenommen zu werden.
Gibt es für einen Künstler eigentlich die „ideale Aufnahme“, oder ist es nur eine punktuelle Betrachtung, die im Moment der Aufnahme entsteht? Und fünf Jahre später sagt man: „Das hätte ich heute ganz anders gespielt!“
Ja, absolut! Das ist auch ein Prozess, den ich selber lernen musste. Ich bin durchaus Perfektionist und störe mich an Kleinigkeiten. Aber ich musste über den Umweg von anderen Aufnahmen lernen, dass ich häufig legendäre Live-Aufnahmen fantastisch fand. Nicht wegen der Kleinigkeiten, die einen durchaus stören könnten – aber das große Bild ist einfach so fantastisch, dass die Kleinigkeiten durchaus zu vernachlässigen sind. Das soll nicht heißen, dass man nicht den Anspruch haben sollte, alles perfekt darzubieten. Aber jede musikalische Aufführung ist immer ein ganz zeitnaher Ausdruck eines Instinktes, eines Gefühls, das man in diesem Moment als Musiker hat. Und die Aufnahme ist ein Dokument davon. Das macht Musik ja auch so spannend.
Es gibt nicht die ideale Fassung eines Werkes. Nichts ist in Stein gemeißelt! Nehmen wir nur das Tempo: Das Tempo steht immer in Abhängigkeit zur eigenen Herzfrequenz, zur Größe des Raumes, zum Zustand des Lebens allgemein und vielen anderen Dingen. Auch zur eigenen Wahrnehmung, die niemals gleich ist. Musik ist immer Zeitkunst. Du kannst ja auch nicht das ganze Musikstück auf einmal wahrnehmen. Es ist immer der Verlauf der Zeit, in dem man etwas hört. Und das gibt der Musik etwas unglaublich Magisches. Am Ende steht selbst bei jedem noch so gut durchgearbeiteten Stück dieser musikalische Grundimpuls, als wenn man zu Haus im Bad ohne nachzudenken eine Melodie pfeift.
Es gibt nicht die ideale Fassung eines Werkes. Nichts ist in Stein gemeißelt!
Wenn ein Konzert oder eine Aufnahme so sehr dem Momentum unterworfen ist: was ist das, was bleibt? Was ist es, das ein musikalisches Erlebnis selbst nach Jahrzehnten, in denen sich der Geschmack der Menschen und die technischen Möglichkeiten der Künstler, der Instrumente und der Aufnahmegeräte bereits dreimal geändert haben, noch so unvergesslich macht? Kann man das „greifen“?
Ich glaube nicht! Ich glaube, das ist ein Geheimnis – unaussprechlich und nur mit den Ohren aufzunehmen. Wenn ich versuchen sollte, es zu beschreiben, dann würde ich sagen: „Am Ende ist es am wesentlichsten, dass dort jemand sitzt, der authentisch etwas erlebt und den starken Wunsch verspürt, es auch auszudrücken. Das ist die Grundbedingung.
Aber es ist keine mathematische Erklärung für etwas, das jeder Mensch anders empfindet und das im Bereich des Unsagbaren, Feinstofflichen liegt. Und trotzdem scheint es so etwas wie ein zentrales Bewusstsein zu geben, bei dem auch in Konzerten in bestimmten Momenten alle Zuhörer das gleiche empfinden. Das ist ein ganz spannendes Erlebnis!
Was ist das, was bleibt?
Wie wählen Sie die Stücke für eine neue Aufnahme aus?
Es ist nicht so, dass ich durch die Gegend laufe und mich frage: was nehme ich denn jetzt einmal auf? Es gibt sicher ein Duzend Werke, die mir so wichtig sind, dass ich sie irgendwann einmal aufnehmen möchte. Diese Stücke sind fester Bestandteil meiner musikalischen Reise. Es sind Werke, die ich oft höre, die ich bewundere und zu denen ich auch meine persönliche Antwort geben möchte. Und dann gibt es Stücke, mit denen man gar nicht gerechnet hat; Die einem in den Weg gelegt werden und die einen ganz überraschend packen. Aber beides ergibt sich irgendwo in einem passenden Moment. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich so richtig „wähle“.
Wovon lassen sie sich bei Ihrer Interpretation leiten: Von Ihren musikalischen Vorbildern, von den Likes im Internet oder Ihrem persönlichen Verständnis der Stücke
Ganz klar von meinem persönlichen Verständnis! Ich mache Musik für die Menschen, die aus irgendeinem Grund ein ähnliches musikalisches Verständnis haben wie ich. Natürlich lasse ich mich auch beeinflussen. Wenn ich an meine Schubert-Aufnahme denke, dann ist die natürlich beeinflusst von dem, was Alfred Brendel mir gesagt hat in den vielen Jahren, in denen ich bei ihm sein durfte. Aber am Schluss lasse ich mich ausschließlich von meinem persönlichen Geschmack leiten
Wie findet ein Künstler zu seiner eigenen künstlerischen Wahrheit, unter dem Druck, einer breiten Öffentlichkeit gefallen zu müssen?
Der breiten Öffentlichkeit möchte ich gar nicht gefallen. Es gibt aber natürlich Autoritäten. Ich nenne drei Namen: Alfred Bredel, Daniel Barenboim, Pierre-Laurent Aimard. Wenn diese Giganten mir etwas sagen und ich entscheide mich anders, dann erfordert das schon einen Entscheidungsprozess, eine eigene Wahrheitsfindung.
Das mache ich nicht einfach so. Aber der breiten Öffentlichkeit gegenüber verspüre ich keine Verpflichtung! Wenn ich etwas für die breite Öffentlichkeit machen würde, dann würde ich auch nicht ein Schubert-Album auf einem fantastischen Flügel von 1956 aufnehmen. Ich würde ganz andere Dinge machen, wenn es mein Ziel wäre, der Masse zu gefallen.
Wenn ich etwas für die breite Öffentlichkeit machen würde, dann würde ich auch nicht ein Schubert-Album auf einem fantastischen Flügel von 1956 aufnehmen.
Lesen Sie Ihre Kritik?
Von ein paar Kritikern, die ich mag und die ich interessant finde, hi und da schon. Aber erstaunlich wenig – eigentlich fast gar nicht mehr. Die Vorstellung, wie ein Stück zu sein hat, ist mitunter sehr stark und diktiert dann die Kritik, die man daran äußert. Es sind eher bestimmte Personen, deren Kritik für mich wichtig ist. Darunter sind nicht nur die eben genannten Autoritäten, sondern auch meine Frau, die beruflich gar nichts mit Musik zu tun hat. Wenn sie sagt, dass sie „den letzten Satz zu schnell“ findet, dann denke ich auch auf jeden Fall darüber nach.
Wie sehr schmerzt Kritik?
Manchmal kann man sich über Kritiker schon ärgern, weil man nicht die Möglichkeit hat, zu antworten. Besonders dann, wenn die Kritik im Kern einfach falsch ist und man denkt: Lies doch einfach einmal, was Beethoven geschrieben hat, dann siehst du, dass es keinen Sinn hat, was du schreibst! Darüber darf man sich einfach nicht aufregen! Ansonsten gefällt mir Kritik eigentlich, wenn sie nicht bösartig ist, weil ich das Gefühl habe, dass mir der Andere wirklich gut zugehört hat.
Lies doch einfach einmal, was Beethoven geschrieben hat, dann siehst du, dass es keinen Sinn hat, was du schreibst!
Wenn nach dem Konzert jemand zu mir kommt und sagt: „Das und das hätte ich anders gemacht“, dann finde ich das toll, denn er hat meine Interpretation gehört und sich damit auseinandergesetzt und hat ihr seine eigene Vorstellung entgegengesetzt – und das finde ich sehr gut!
Wann tut eine schlechte Kritik mehr weh: Wenn Sie wissen, dass Sie einen schlechten Tag hatten und selbst unzufrieden sind oder wenn Sie überzeugt sind, dass Sie wirklich gut gespielt haben?
Auf jeden Fall, wenn ich selbst zufrieden war! Wenn man schlecht gespielt hat und dann sagt einem das jemand, dann kann man auch schon mal sagen: „Sie haben Recht!“ Es gibt einen Ausspruch, der lautet: „Wer immer mit sich zufrieden war, der hat nie versucht, so gut wie möglich zu spielen!“ Man muss akzeptieren, dass man auch eine gewisse Tagesform hat.
Hat eine Kritik überhaupt einen Einfluss auf Ihr Spiel? Und wenn ja, welchen?
Einen sehr direkten! Auch meine eigene Kritik. Wenn ich zum Beispiel eine Aufnahme meines Konzertes höre und ich mich über ein Detail sehr ärgere oder über ein Tempo, von dem ich denke, nein, das muss doch langsamer, dann spiele ich das beim nächsten Mal gleich anders.
In einem jungen Pianistenleben gibt es sicher Meilensteine, die es zu setzen gilt. Was überwiegt bei Ihnen: der Wunsch, etwas Neues, noch nicht Dagewesenes zu erreichen und dadurch nicht vergleichbar zu sein oder die Hoffnung, in einen etablierten Bereich etwas Frisches hinein zu bringen durch einen anderen Zugang?
Das ist eine sehr gute Frage! Nehmen wir zum Beispiel meine Schubert-CD: Einerseits möchte ich wahnsinnig gerne die späten Schubert-Sonaten wieder neu und anders erlebbar machen, dadurch, dass ich meine eigenen persönlichen Antworten gebe. Und gleichzeitig ist es so, dass ich langsam immer wieder einmal versuche, meine eigenen Kompositionen ins Programm zu nehmen. Einige Veranstalter finden das großartig, andere hingegen sagen „Sie sind Pianist, wir brauchen keinen Komponisten“. Und dann frage ich mich natürlich, welche Autorität ich als Künstler habe, wenn ich nicht einmal meine eigenen Kompositionen spielen darf! Allein dieser Moment, wenn ich in der höchsten Form kreativ geworden bin und etwas präsentiere, das ich mir ausgedacht habe und in dem das Publikum nicht weiß, was jetzt kommt! Das ist etwas, was ich manchmal vermisse und deshalb inzwischen immer häufiger einzubinden versuche. Und das ist übrigens etwas, das die Popmusik der Klassischen Musikszene voraushat: Wenn jemand ein neues Album herausbringt und niemand weiß, was drauf ist, dann reißen sich die Leute drum. Das ist fantastisch.
…und was wäre konkret ein solcher Meilenstein für Sie?
In erster Linie sind das die großen Werke für Klavier, die mir persönlich wirklich am Herzen liegen. Die Schubert-Sonaten, die ich gerade aufgenommen habe, sind ganz sicher ein richtiger Meilenstein. Dann habe ich alle 5 Beethoven-Klavierkonzerte gespielt und dirigiert, das war auch ein Meilenstein. In näherer Zukunft ist das Wohltemperierte Klavier, Band 1, ein Meilenstein.
Das ist wie bei Bergsteigern, die noch nicht auf dem Mount Everest waren oder auf dem K2. Sie wissen, die Zeit wird kommen und man freut sich ungemein darauf. Vielleicht scheitert man, oder auch nicht – aber was bedeutet das schon? Diese Berge sehe ich schon am Horizont.
Auf der Suche nach Bergen am Horizont: Fabian Müller und sein Aufnahmeleiter Johannes Kammann
Gerade bei der Musik des 20. Und 21. Jahrhunderts wird – für meinen Geschmack – oftmals zu wenig erklärt, das Publikum zu wenig „mitgenommen“. Sie selbst waren 2015 Preisträger des Wettbewerbs „Ton und Erklärung“. Sehen Sie sich zumindest ein Stück weit in der Verantwortung, wenn es darum geht, das Publikum in die Musik einzubinden?
Ja! Zwar gefällt mir durchaus auch der Gedanke, auf die Bühne zu gehen, zu spielen und fertig zu sein. In dem Sinne, dass ich das Gefühl habe, ich bin gerade nur bei dem fertigen Musikprojekt, von dem ich träume. Das hat für Pianisten durchaus einen hohen Reiz, sich in ihrem Elfenbeinturm zu verausgaben. Aber sonst sehe ich das ganz pragmatisch: Ich verspüre einen großen Drang, einem Freund, dem ich etwas vorspiele, zu erklären, was ich an diesem Werk schätze. Es ist ein ganz natürlicher Impuls, ihm das zu erklären. Es geht nicht um mein Verantwortungsgefühl und nicht um Strategie. Ich mache das alleine aus dem Gefühl heraus, ihm helfen zu wollen, wenn ich das Fragezeichen in seinem Gesicht sehe. Und dieselbe Hilfsbereitschaft verspüre ich oft in Konzerten. Und ganz nebenbei habe ich das Gefühl, dass sich dadurch eine sehr schöne Verbindung zum Publikum ergibt.
Dem klassischen Konzertbetrieb haftet immer etwas Unnahbares und Elitäres an. Das Publikum wird zunehmend älter und der Altersschnitt dürfte heute bei 60 Jahren liegen. Sehen Sie für sich und Ihre gleichaltrigen KollegInnen eine Möglichkeit, ein jüngeres Publikum für Ihre Kunst zu interessieren?
Die sehe ich absolut! Ich halte es für entscheidend, dass man in sehr junge Menschen viel investiert, um ihnen diese Musik nahe zu bringen. Es ist wichtig, ihnen die Chance zu geben, sie zu mögen. Man muss dieses Mögen lernen. Ich persönlich habe aufgehört, mich zu ärgern, wenn nicht so viele junge Menschen im Konzert sind. Ich spiele gerne für Menschen aller Altersgruppen, aber ich spiele auch gerne nur für ältere Menschen. Das ist in Ordnung. Ich bin auch nicht sicher, ob man zwischen zwanzig und dreißig nicht etwas anderes im Kopf hat. Vielleicht will man eher ausgehen und herumhüpfen, als in einem Konzert still zu sitzen. Und zwischen dreißig und vierzig hat man vielleicht Kinder und für andere Dinge einfach keinen Kopf und keine Zeit mehr.
Deshalb ist es auch nicht gut, diesen Umstand zu verteufeln, dass es zu wenig junge Menschen im Konzert gibt – und versuchen zu wollen, etwas verbissen zu erzwingen. Es ist wichtig, bei Kindern und Jugendlichen Impulse zu setzen und danach die Zeit entscheiden zu lassen, ob sie im reiferen Alter wieder in die Konzerte zurückkommen.
Es ist wichtig, bei Kindern und Jugendlichen Impulse zu setzen.
Heute sind Sie Professor an der Musikhochschule Köln. Gibt es Dinge, die Sie anders machen möchten, als Ihre eigenen Lehrer?
Ich hatte schon großes Glück, dass alle Lehrer, die ich selbst hatte, eine so brennende Liebe zur Musik hatten – und ihr Wunsch nach Qualität alles andere bestimmt hat. Das heißt nicht, dass es verbissen war oder dass es tyrannische Lehrer waren. Ich habe es geliebt, dass es keine Kompromisse bei dem Streben nach der größtmöglichen Qualität gab. Und in diesem Sinne sind mir meine Lehrer immer Vorbild. Ich bin aus dem Unterricht gekommen und dachte mir: in dieser Stunde habe ich eine Welt erfahren über das Werk, über das Handwerk Klavierspielen und darüber, wie ich als Pianist besser werden kann. Und das alles ist auch für mich oberste Prämisse, wenn ich heute selbst unterrichte. Das ist viel mehr und wichtiger, als die Einzelheiten, die ich vielleicht anders machen möchte.
Und was möchten Sie unbedingt an Ihre StudentInnen weitergeben?
Ich könnte jetzt eine sehr poetische Antwort geben, wie „finde Dich selbst“ oder Ähnliches. Aber was ich jetzt selber wieder bei meinen Schülern merke, ist, wie unglaublich viel man als junger Student in dieser Zeit lernt. Die Leute denken sehr oft: „Musizieren, das ist Talent und ein bisschen „Sich-selber-finden“. Aber es ist enorm handwerklich und wahnsinnig viel „Verstehen-wie-es geht“! Warum haben die Holländer so großartig gemalt im 16. und 17. Jahrhundert? Weil sie wussten, wie es geht! Und das wird manchmal unterschätzt. Ich will kein Lehrer sein, die groß um den heißen Brei herumredet, sondern ich will versuchen, meinen Studenten alles beizubringen, was ich weiß. Damit sie den größtmöglichen Werkzeugkoffer an Qualität bekommen, den man haben kann. Darüber sich dann selber zu finden, mag dann ein sehr spaßiger Prozess sein, aber wenn man von außen darauf schaut, vergisst man manchmal, dass das Klavierspiel ist eine sehr anspruchsvolle Kunst ist.
Was sind Ihre ganz persönlichen Wünsche und Pläne für Ihre berufliche Zukunft?
Ich habe ein riesen Spaß, Pianist zu sein. Und ich erwähnte bereits die Berge, die ich noch besteigen möchte.
"Der Horizont, den ich sehe, ist sicher weiter": Fabian Müller und Sunjin Kim (piano duo Hiking-Assistant)
Aber am Horizont hinter diesen Bergen sehe ich noch andere Gebirge, die ich auch noch unbedingt entdecken möchte. Ich habe jetzt angefangen, mehr und mehr zu dirigieren und ich liebe das! Und ich komponiere auch immer öfter. Der Horizont, den ich sehe, ist sicher weiter, als ich in meinem Leben erwandern werde. Aber soweit es meine Gesundheit erlaubt, werde ich versuchen, noch viele Kilometer hinter mich zu bringen.
…und was wünschen Sie dem Musikbetrieb im Allgemeinen?
Ich hoffe, dass unsere Neugier, ins Konzert zu gehen, sich zu treffen, miteinander zu sprechen und ganz kreativ Kunst auszuüben, unabhängig von Schubladen, dass dieser Moment, irgendwo hinzugehen und sich von etwas auf der Bühne überraschen und überwältigen zu lassen, niemals aufhört. Ich hoffe, dass wir nicht irgendwann alle nur noch auf der Couch sitzen und Netflix gucken, sondern dass wir hinausgehen und hören, was der Mensch eigentlich macht und was er zu sagen hat.
Fabian Müller, herzlichen Dank für das Gespräch!