Pierre-Laurent Aimard begeisterte im Rahmen der Musikverein Perspektiven mit Klaviermusik von Bach bis zur Gegenwart. Für "Musikfreunde", das Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, gibt er im Interview mit Walter Weidringer spannende Einblicke in seine komplexen Gedanken, die hinter der Entwicklung seines fein verwobenen Programms stehen:
„Titanisch“ sei seine Leistung gewesen beim Vortrag der „neuen Magna Charta des Klavierspiels“, hieß es in der „FAZ“, Pierre-Laurent Aimard habe bei den Etüden von György Ligeti „das Unmögliche“ gemeistert: Nur ein Beispiel für die fulminanten Kritiken, die dieser Perfektionist des Klaviers jüngst bei den Salzburger Festspielen eingeheimst hat. In den Musikverein kehrt Pierre-Laurent Aimard nun mit einem seiner klugen, penibel aufgebauten und emotional durchwirkten Programme zurück: Musik von Johann Sebastian Bach und Franz Schubert tritt dabei in Dialog mit Werken von György Kurtág und einem Stück der serbischen Komponistin Milica Djordjević. Und wenn hier vom Dialog die Rede ist, dann bedeutet das nicht bloß ein zufälliges Zusammentreffen am selben Abend: Die Verbindung der Musikverein Perspektiven in Zusammenarbeit mit dem Architekten Peter Zumthor und dem Festival Wien Modern regt diesen phänomenalen Pianisten zu besonders beziehungsreichen, vielfältigen Begegnungen an.
Herr Aimard, Sie sind nicht nur dafür berühmt, dass Sie zum Beispiel Ligetis „Études“ atemberaubend spielen können, sondern auch für Ihre Konzertprogramme, die Sie oft ohne Pause oder zumindest in jeder Konzerthälfte als Ganzes präsentieren. Gibt es bei der Dramaturgie bestimmte Grundsätze? Oder gehen Sie da eher assoziativ vor?
Allgemeine Prinzipien habe ich da keine. Das eigentlich Schöpferische passiert natürlich beim Komponieren, aber auch wir Interpreten dürfen kreativ sein, das sollte in unserer industrialisierten Ära nicht verlorengehen. Also versuche ich, für jede Gelegenheit von Grund auf ein sinnvolles Programm zu finden. In diesem Fall treffen zwei Institutionen zusammen. Die eine kann wie ein Tempel der Tradition erscheinen: der Musikverein; die andere repräsentiert die Kräfte des Neuen: Wien Modern. Ich habe versucht, auf kreative Weise eine gemeinsame Welt zu errichten. Zugleich kommt vom Musikverein diese wunderbare Residenz von Peter Zumthor. Das hat mich zu einer Doppelkonstruktion animiert, zu zwei Antiphonien, aber nach verschiedenen Prinzipien. Im ersten Teil richtet die Verbrüderung von Johann Sebastian Bach und György Kurtág die Aufmerksamkeit auf das Material. Bei Bach entwickelt sich noch die kleinste Architektur aus starker Thematik, jeder Grundgedanke entfaltet extreme strukturelle Kraft. Das schließt so viele Schichten mit ein, dass alle möglichen Entwicklungen in dem Stück organisch klingen. Bei Kurtág ist das Grundmaterial auch frappierend kommunikativ, aber seine Strategie ist ganz anders: Er hat Tabula rasa gemacht und sein Komponieren dann von Grund auf neu entfaltet. So klingen etliche seiner Stücke zumindest für mich. In beiden Fällen ist das Material also sehr auffällig, wird aber dann ganz anders organisiert. Mein Programm spielt mit diesem Kontrast.
Wie ist das dann im zweiten Teil, wenn Kurtág und Franz Schubert aufeinandertreffen?
Da ist die Musik generell atmosphärischer, Stimmungen werden wichtiger. Ich habe Kurtág-Werke eher jüngeren Datums ausgesucht, sie bringen uns in eine Welt von Poesie, Traum, Intimität. Und Schuberts Tänze mögen kurz sein, sie sind aber von der Substanz her reich, tief und existenziell. Sie bringen, nicht weniger als Schuberts größte Stücke, wesentliche menschliche Dimensionen zum Klingen. Die Schwingungen zwischen diesen beiden Partnern sind nicht mehr klar voneinander geschieden, sondern voller Doppel- und Mehrdeutigkeiten, manchmal scheinen die Grenzen zu verschwimmen. Zusammen mit dem mysteriösen „Role-playing 1: strings attached“, einem 2019 entstandenen Werk der Komponistin Milica Djordjević, die 1984 in Belgrad geboren wurde, bekommt das Ganze etwas Schlafwandlerisches, Somnambules. So ergeben sich aus jeweils zwei Gegenüberstellungen zwei ganz verschiedene Teile, die einander wieder ergänzen. In Summe ist es die paradoxe Einladung ans Publikum, in einem großen Konzertsaal einem eigentlich ganz privaten, intimen Klavierabend zu lauschen. Da schwingt auch noch die Zeit der Pandemie mit, in der wir isoliert waren, einen Mangel an öffentlicher Begegnung mit Musik litten und notgedrungen ein anderes Verhältnis dazu entwickelt haben. Vielleicht hat uns das die Wichtigkeit der Intimität neu gelehrt. Für mich als Interpret ist das ein wichtiges Statement in einer Welt, die mittlerweile so stark auf Show ausgerichtet ist.
Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ ist zumindest auch ein Plädoyer für eine bestimmte neue Art, die zwölf Töne auf dem Klavier zu stimmen, die Tonarten in ein erträgliches Verhältnis zueinander zu bringen, den Quintenzirkel überhaupt erst einmal befriedigend zu schließen, ohne dass es zu schräg klingt. Es war damals nicht die gleichschwebend temperierte Stimmung, die wir heute benutzen, sondern eine Variante, die Andreas Werckmeister vorgeschlagen hat. Heute ist uns das eigentlich nicht mehr bewusst oder zumindest egal. Was bedeutet Ihnen dieses „Wohltemperierte Klavier“, welche Facetten besitzt es?
Wie so oft bei dermaßen lang verfolgten Projekten Bachs ist das „Wohltemperierte Klavier“ mit seinen zwei Bänden Summe und Kompendium, Manifest und Postulat für eine neue, wohltemperierte Welt. Es ist das Stück einer Revolution! Die enorme Vielfalt ergibt sich aus der Verwendung aller Tonarten für jeweils ein Präludium und eine Fuge pro Band, und damals war jede Tonart noch ein eigenes Universum wegen der klaren Unterschiede ihrer Intervalle. Das ergibt in Summe eine umfassende Ausstellung verschiedener Typen von Polyphonie, von Virtuosität, von Stilen, Traditionen, Herkünften und Anregungen. Es ist auch ein Stück zum Üben, etwas, das man nur für sich selbst spielt. Und für Gott – als den Architekten des Universums. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen, das ist das Einmalige an diesen Zyklen Bachs. Ich könnte schwer leben, ohne regelmäßig zu diesen Werken zurückzukommen.
György Kurtág ist ein sehr intimer und zugleich sehr gestischer Komponist, ein Meister des Weglassens, es kommen relativ wenige Töne aufs Papier, aber die haben es in sich, sind sehr expressiv. Ist das zunächst einmal schwieriger als die übliche Virtuosität, die manchmal immer noch mehr Töne in noch kürzerer Zeit umfasst?
Vermutlich ja. Wenn alles mit einem sehr kargen Material ausgedrückt wird, dann muss die Disziplin auf Seite des Interpreten sehr hoch sein, um diese Sparsamkeit zu rechtfertigen. Das gilt für Webern sowieso, teilweise für Mozart und viel andere, auch oft in bildender Kunst gibt es dafür frappierende Beispiele. Was in Kurtágs „Játékok“ so speziell wirkt, ist die Kunst der – ich sage bewusst nicht: Reduktion, sondern der Unbeflecktheit, der Reinheit und Konzentration. Kurze, völlig authentische Gedanken und Gefühle laufen durch einen perfektionistischen Filter und werden in Form eines Tagebuchs zu Papier gebracht. Bei Bach ist es eine Intimität des Musikarbeiters, er hat sich als Handwerker gesehen; bei Schubert Bewegung des Tanzes und des Herzens, des Gefühls.
"Das eigentlich Schöpferische passiert natürlich beim Komponieren, aber auch wir Interpreten dürfen kreativ sein."
Wie wichtig ist für Sie als Interpret und für uns als Publikum das, was Kurtág gemeint und inspiriert hat? Sollte man seine Titel und Anregungen vorher wissen? Oder reicht es, sie hinterher zu erfahren? Debussy hat die Titel seiner Préludes ans Ende der Noten gestellt, in spitze Klammern ...
Wie immer: Mehr Information bringt mehr Verständnis. Wer die Titel und die verschiedenen Ebenen der Geschichten hinter den einzelnen Stücken kennt, für den wird der Reichtum der Musik noch stärker glänzen. Aber sie sind auch aus einem anderen Grund wichtig: In unserer heutigen Gesellschaft ist die klassische Musik mittlerweile längst nicht mehr so verankert und präsent wie in früheren Zeiten. Desto wichtiger ist es zu erfahren, dass es noch Menschen gibt, für die die Musik eine enorme Rolle auch im Alltag spielt. Kürzlich habe ich György Kurtág in Budapest besucht, um mit ihm an einigen seiner Werke zu arbeiten. Als er hörte, dass es Freunden von uns nicht gut ging, hat er spontan ein Stückchen komponiert und es ihnen zukommen lassen: als seinen persönlichen Trost und Zuspruch. Das ist eine unglaubliche Art, in jedem Moment Musik zu atmen. Die Titel können uns da ein Schlüssel sein.
Er ist also für seine 97 Jahre noch gut beisammen?
Und wie! Ich kann mir nur wünschen, dass mein Kopf in dem Alter auch noch so gut funktioniert.
Franz Schubert soll einmal gefragt haben: Kennen Sie eine fröhliche Musik? Das suggeriert ein Nein – und das hieße, dass er selber auch keine solche geschrieben haben kann. Wie passt das zusammen mit Tänzen, allgemein mit Unterhaltungsmusik?
Die Funktion dieser Stücke sollte die Unterhaltung sein, aber der Mensch Schubert macht sich keine Illusionen: Leben und Tod sind untrennbar für ihn, das ist in eigentlich jeder Musik von ihm so, und das liebe ich ganz besonders. Der Künstler erlebt diesen Dualismus auf Schritt und Tritt – und Schubert kann uns das manchmal in Stücken von nicht mehr als 20 Sekunden vermitteln.
Das Gespräch führte Walter Weidringer. Die Verwendung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Wiener Musikvereins.